30 DESTINATIONS

Elke Krasny on the installation "30 Destinations" at O.K Centrum für Gegenwartskunst, Linz, 1998

Elke Krasny
30 DESTINATIONS
Zur Installation 30 Destinations im O.K Centrum für Gegenwartskunst, Linz, 1998

In einem dem Darstellungsverfahren der Architektur verwandten Zeichensystem bearbeitet Karl-Heinz Klopf Räume und Orte, in denen er längere oder kürzere Zeit gelebt hat. Es entstehen komponierte Draufsichten biographischer Ortserinnerungen, die von aller physischen Eindrücklichkeit des Ortes gereinigt erscheinen und bis zur darunterliegenden, verallgemeinerbaren Signatur vordringen. Ein souveräner Blick verzichtet auf alles Akzidentelle der Raumwahrnehmung und definiert aus den vor Ort gewonnenen Eindrücken einen kompositorischen Bildausschnitt der Erinnerung. In einfachen Codes werden diese „Grundrisse“ mit Pinselstrichen auf Planen aufgetragen und über Rahmen gespannt. Diese „Planobjekte“ changieren zwischen Architektur, Malerei und Objekt. Vom Objektcharakter selbst gehen auch die Darstellungen der Erinnerungspläne aus, nicht von der geographischen Orientierung im Außenraum. Für den Betrachter erscheinen die komponierten Ausschnitte der Erinnerung wie Umkehrbilder, Negativabdrücke der Eindrücke: schraffierte weiße Flächen für Häuser, weiße Kreise für Bäume auf dunklem Grund. Gebäude werden zu Texturen, die Außenflächen bleiben glatt. Blendet man in der Betrachtung das Wissen, dass es sich um objektivierte Signaturen persönlicher Ortserinnerungen handelt, aus, und versucht man, auf das Lesen architektonischer Pläne zu verzichten, bleibt der Eindruck eines spannungsgeladenen Spiels der Komposition aus Flächen, Linien und reduzierter Farbgebung.
Das Gedächtnis als Umgebung für das Denken öffnet seine räumlichen Speicher, die Schichten der Erinnerungen werden freigelegt, bis zu dem, was man vor Ort nicht sehen kann: den Plan der Erinnerung selbst. Dieser Plan ist die Grundlage der Bildkomposition. So wie die Organisation des Gedächtnisses selbst häufig in räumlichen Metaphern beschrieben wird, organisiert Karl-Heinz Klopf sein persönliches Orts-Gedächtnis als abstrakte Pläne der Erinnerung.
In Georges Perecs Buch Träume von Räumen [Espèces d’espaces] wird an der Vergegenwärtigung gesammelter Raumkonzentration gearbeitet: „Ich habe ein ungewöhnliches Erinnerungsvermögen. Es genügt einfach, daß ich die Augen schließe, sobald ich liege und mit einem Minimum an Konzentration an einen bestimmten Ort denke, damit mir fast gleich darauf alle Einzelheiten des Zimmers, die Lage der Türen und der Fenster, die Anordnung der Möbel wieder in den Sinn kommen, damit ich noch genauer, das fast physische Empfinden habe, wieder in diesem Zimmer zu liegen. Der wiedererweckte Raum des Zimmers genügt, die flüchtigsten, die albernsten wie die wichtigsten Erinnerungen aufzufrischen, zurückzubringen, wiederzubeleben.“ Häufig evoziert das Andenken des Raums die den Raum begleitenden Wahrnehmungen und Erfahrungen – sie bilden einen Gedächtnisort. Ein längerer Aufenthalt des Künstlers in Tokio führte zu dem Projekt Splace (Space/Place). Die Auslotung einer von westlichen Raumtraditionen höchst unterschiedlichen urbanen Agglomeration erschien faszinierend. Karl-Heinz Klopf durchstreifte die Stadt mit Camcorder und Tonband und bannte die flüchtige Wahrnehmung von Orten in Bild und Ton. In dem Video Splace kommt die Stadt in ihrer Vielstimmigkeit zu Wort: einzelne Gebäude, die pulsierenden Adern des Metronetzes, Gespräche mit Tokiotern über ihre persönliche Umgebung. Aus den Überlagerungen der physischen Stadt, der bewohnten Stadt und der imaginierten Stadt entsteht eine vielschichtige Projektion von „Tokio“ als Erfahrungsraum.
30 Destinations bietet dem Besucher der Ausstellung Archiv X eine Gedächtniswanderung durch ausgewählte biographische Stationen. Auf einer langen Plane im Gang des Eingangsgeschosses sind sie in streng chronologischer Folge aneinandergereiht. Jeder Ort ist namentlich bezeichnet, durch einen Grundriss dargestellt und mit einer kurzen Texterklärung versehen. Zwei synchron geschaltete Monitore flankieren die Installation, sie zeigen Teile früherer Videodokumentationen der einzelnen Orte sowie die Entstehung von 30 Destinations. Karl-Heinz Klopf arbeitete im Mediendeck des O.K an der Plane, gab Kommentare und persönliche Erläuterungen zu den einzelnen Stationen und wurde dabei auf Video aufgenommen. Die Orte gewinnen Konturen und lassen die Betrachter in ein gegenwärtiges Archiv fremder Erinnerungen und Assoziationen eintauchen. Die unterschiedlichen medialen Darstellungsformen der einzelnen Orte, die Verbindung des Archivmaterials mit der aktuellen Aufzeichnung lassen ein mehrschichtiges Bild der Konstruktion des Erinnerns entstehen. Dann beginnt die Wanderung der Besucher entlang der biographischen Stationen durch den Gang – Rainbach, Tlaquepaque, Santa Fe, Toritsu Dai, Les Landries …

„Es ist meine Erinnerung an spezifische Gebäude/Orte, die diese Darstellungen ermöglichen. Diese Art der Zeichnungen sind nichts anderes als eine Form der Beschreibung – in einem Abstraktionsgrad, der für mich ähnlich wie der gesprochene oder geschriebene Text auch viele Möglichkeiten der Projektion der Rezipienten offenläßt. Für die meisten, die diese Orte nicht kennen, erscheinen vielleicht meine Lagepläne wie ein poetischer Text. Ich sehe das manchmal auch so. Das ‚Archiv‘ dieser Erinnerungen ist für mich auch eine Metapher für den räumlichen und somit auch kulturellen Aktionsradius, der heute möglich und gleichzeitig selbstverständlich ist.“ (Karl-Heinz Klopf)

 

Erschienen in: Archiv X, Ermittlungen der Gegenwartskunst. O.K Centrum für Gegenwartskunst, Linz, 1998.

Elke Krasny
30 DESTINATIONS
a work by Karl-Heinz Klopf at the O.K Center for Contemporary Art, Linz, 1998

In a system of signs related to the representational procedures of architecture, Karl-Heinz Klopf treats places, where he has lived for longer or shorter periods of time. What emerges are composed overviews of biographical place memories, that seem cleared of all the physical impressiveness of the location and press on to the generality of the signature lying below. A sovereign glance does without all that is accidental in the perception of space and takes the impressions gained on site to define a compositional image segment of memory. In simple codes, these „foundations“ are transferred to maps with brush strokes and mounted on frames as objects. These „plan objects“ alternate between architecture, painting and object. The representations of the memory-maps are also based on the object character itself, rather than geographic orientation in external space. The compositional segments of memor appear to the observer like reverse images, negative prints of impressions: hachured white areas for houses, white circles for trees on a dark background. Buildings become textures, the outlying areas remain smooth. If one pushes aside the knowledge that these are objectified signatures of personal place memories and attempts not to read them as architectonic plans, what remains is the impression of an energy-charged game of composing with surfaces, lines and reduced coloration. Recollection as the environment for thinking opens its spatial storehouse, the layers of memories are laid bare down to that which cannot be seen on site: the map of the memory itself. This map is the foundation for the picture composition. Just as the organization of recollection is often described in spatial metaphors, Karl-Heinz Klopf organizes his personal place recollection as abstract maps of memory.
In Georges Perec’s book Träume von Räumen [Espèces d’espaces], an attempt is made to invoke collected room concentration: „I have an unusual memory capacity. It is enough to close my eyes as soon as I lie down and think of a certain place with a minimum of concentration, and almost immediately I am able to recollect every detail of the room, the position of the doors and windows, the arrangement of the furniture. Indeed I have an almost physical sensation of lying in that room again. … The recollected space of the room is sufficient to refresh, recall, revive the most fleeting, the most ridiculous, but also the most important memories.“ Thinking of a particular room often evokes the perceptions and experiences associated with that room – they form a place of recollection.
A longer sojourn of the artist in Tokyo led to the project Splace (space/place). Exploring an urban agglomeration entirely different from that of western traditions of space seemed fascinating. Karl-Heinz Klopf wandered through the city with a Camcorder and a tape recorder, capturing the fleeting perception of places in sound and picture. In the video Splace, the city speaks for itself in its own multivocality: individual buildings, the pumping veins of the metro network, conversations with inhabitants of Tokyo about their personal surroundings. The superimpositions of the physical city, the inhabited city and the imagined city result in a multilayered projection of „Tokyo“ as a space of experience.
30 Destinations offers the visitors to the exhibition Archiv X a recollective walk through selected biographical stations. They are arranged in strictly chronological order on a long tarpaulin through the entry level hall. Each place is marked by name, represented by an outline and explained in a brief text. Two synchronized monitors flank the installation, showing earlier video documentations of the respective places and how 30 Destinations was created. While working on the tarpaulin in the Mediadeck of the O.K, Karl-Heinz Klopf gave commentaries and personal explanations for each of the stations and was filmed on video. The places take on contours and allow the visitor to dive into a present archive of a stranger’s memories and associations. The way the individual places are represented with different media forms, the association of the archive material with the current recording, result in a multilayered image of the construction of remembering. Then the visitor’s walk begins along chronologically arranged, biographical places through the hall – Rainbach, Tiaquepaque, Santa Fe, Toritsu Dai, Les Landries …

„It is my memory of specific buildings/places that makes these representations possible. These kinds of drawings are nothing other than a form of description – in a degree of abstraction that I find similar to the spoken or written text, leaving many possibilities open for the recipient’s own projections. For many people who don’t know these places, my site plans may seem like a poetic text. Sometimes I see it like that, too. To me, the ‚archive‘ of these memories is also a metaphor for the spatial and thus also the cultural radius of action that is possible today and is taken for granted at the same time.“ (Karl-Heinz Klopf)

 

Published in: Archiv X, Investigations of Contemporary Art, O.K Center for Contemporary Art in Linz, 1998