HIC SUNT LEONES

Elisabeth Schlebrügge on the "Planobjekte" ["Plan Objects"] (1992 – 1993)

Elisabeth Schlebrügge
HIC SUNT LEONES
Zu den „Planobjekten“ (1992–1993)

„In jenem Reich erlangte die Kunst der Kartographie eine derartige Vollkommenheit, dass die Karte einer einzigen Provinz den Raum einer ganzen Stadt einnahm und die Karte des Reichs den einer Provinz. Mit der Zeit befriedigten diese übermäßig großen Karten nicht länger, und die Kollegs der Kartographen erstellten eine Karte des Reichs, die genau die Größe des Reiches hatte und sich mit ihm in jedem Punkt deckte. Die nachfolgenden Geschlechter, die dem Studium der Kartographie nicht mehr so ergeben waren, waren der Ansicht, dass diese ausgedehnte Karte überflüssig sei und überließen sie, nicht ohne Verstoß gegen die Pietät, den Unbilden der Sonne und der Winter. In den Wüsten des Westens haben sich bis heute zerstückelte Ruinen der Karte erhalten, von Tieren behaust und von Bettlern; im ganzen Land gibt es sonst keinen Überrest der geographischen Lehrwissenschaften.“
(Jorge Luis Borges, Von der Strenge der Wissenschaft, nach Suárez Miranda, Viajes de Varones Prudentes, libro cuarto, cap.  XIV, Lérida, 1658)

Mit geradem Rücken lässt das Kind sich zurück in den Schnee fallen und zeichnet, die Arme durchgestreckt von der Schulter zur Hüfte und zurück schwingend, Engel in den Schnee: ein Körper-Bild auf jener Berührungsfläche, die die äußere Hülle vorübergehend zur inneren macht, in einem flüchtigen Moment auf jenen Zustand verweist, wo (am Anfang und am Ende des Lebens, Uterus und vernähtes Segeltuch im Seemannsgrab) in der engen Umhüllung der Körper und der Ort, den er einnimmt, nahezu identisch sind. Mit den Abständen, den Trennungen tritt Raum dazwischen; seine zunehmende Wahrnehmung verhält sich komplementär zur Konstituierung des Subjekts. In der Ausdifferenzierung von außen und innen scheint zuerst die innere Bewegung in die äußere Form der Zeichnung fixiert zu werden; viel später erst werden Ansichten von Häusern gezeichnet, mit Schornstein und Fensterläden, wo der Standpunkt des Zeichners unmissverständlich außen liegt.  Vielleicht macht gerade das die Faszination der Pläne aus, dass sie beides aufbewahren, Blick von außen und die Möglichkeit, sich hineinzuversetzen.

Das Kind entdeckt seine Leidenschaft für Landkarten. Schließt sich in sein Zimmer ein und sitzt stundenlang über einem alten Atlas. Dass da eine Wirklichkeit eingezeichnet ist, die so wenig Ähnlichkeit mit der gewohnten hat, setzt es in Erstaunen – für alle soll sie verbindliche Geltung haben und lässt doch dort, wo die Erfahrung mangelt, so viel Platz für die Vorstellung im Kopf jedes einzelnen. Es zeichnet Pläne von Orten, an denen es nie gewesen ist und die es gar nicht gibt, von einer unbekannten Stadt am Meer. Einmal sieht es irgendwo auf einem Fresko eine Abbildung von der Welt, auf dem die Kontinente eine andere Anzahl und eine andere Form haben als die, die es aus seinem Schulatlas gewohnt ist. Gespannt entziffert es die Schrift auf der weißen Fläche an den Rändern; TERRA INCOGNITA, der unbekannte Erdteil, und HIC SUNT LEONES, hier wohnen die wilden Löwen.

Fremde Orte und vertraute: Immer schon wird das Subjekt definiert über seinen Bewegungsradius, seine Umgebung, seinen Ort, den es bewohnt oder als Flüchtling, Emigrant, Asylant verloren hat.  „Über die Sfäre der Frauen“ hatte Novalis an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert notiert: „die Kinderstube – die Küche – der Garten – der Keller – das Speisegewölbe – die Schlafkammer die Wohnstube – das Gastzimmer – der Boden oder die Rumpelkammer“. Neben der Zuschreibung von außen steht das Bedürfnis, sich einzurichten im Vertrauten wie im Fremden, als Sicherung von Identität, Vergewisserung. Der Ort, eingeschrieben in den Körper; Bewegung, Funktion, Gewohnheit umreißen ihn („da sind wir immer durchgegangen“; ohne zu zögern, die Zahl der Stufen, die bis zur Haustür zu nehmen sind; automatisiert, die Körperwendung“ wenn nach so oder so vielen Schritten in die Gasse links oder rechts einzubiegen ist auf dem Heimweg). Bewegungsabläufe, die zusammen mit Geräuschen und Gerüchen die Leitspuren auch der mémoire involontaire markieren, nicht nur wie die künstlich in der Vorstellung installierten Orte des antiken Gedächtnistheaters der ars memorativa („la memoria artificiale consiste ex locis et imacinibus“), die mit selbstgewählten Bildern besetzt und willkürlich abgeschnitten werden können, um den Text der Rede zu rekapitulieren. Eine Spur, die verfolgt werden kann auf der Suche nach der verlorenen Zeit, zu einer Erzählung zusammengefügt, oder die archäologischen Schichten der Erinnerung auf eine plane Fläche gekippt, Engramm einer inneren Landkarte von Orten, an denen man gewesen ist oder die aufzusuchen, zu entdecken man sich sehnt, ein Lageplan des Erlebten auf dem Reißbrett, alle Pathosornamente abgeschliffen.

 

Erschienen in: Karl-Heinz Klopf – Planen, Secession, Wien, 1993.

Elisabeth Schlebrügge
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About Karl-Heinz Klopf’s „Planobjekte“ [„Plan Objects“] (1992–1993)

„In that empire, the art of cartography achieved such perfection that the map of one single province occupied the whole of the province. In time, those disproportionate maps failed to satisfy and the schools of cartography sketched a map of the empire which was of the size of the empire and coincided al every point with it. Less addicted to the study of cartography, the following generations comprehended that this dilated map was useless and, not without impiety, delivered it to the inclemencies of the sun and of the winters. In the western deserts there remain piecemeal ruins of the map, inhabited by animals and beggars. In the entire rest of the country there is no vestige left of the geographical disciplines.“ (Jorge Luis Borges, A.B. Casares, Extraordinary Tales, London 1973, after Suarez Miranda, Viajes de Varones Prudentes, libro cuarto, cap.XIV, Lérida, 1658)

With his back kept straight the child lets himself fall backwards into the snow, drawing angels in the snow by swinging his arms back and forth straight from the shoulder to the hip: an image of the body on a surface that temporarily makes the outer membrane into an inner one and which for a fleeting moment refers to that state of being where (at the beginning and the end of life, uterus and body bag in which the dead sailor is committed to the ocean) in its close-fitting covering the body and the space that it takes up are almost identical. With distances and separations space intervenes: the increasing perception is related to the formation of the subject. In the balance of outside and inside the inner movement first seems to become fixed in the outer form of the drawing: it is only much later that views of houses are drawn, with chimneys and shutters, where the point of view of the person drawing them is unmistakably located on the outside. Perhaps it is precisely this which constitutes the fascination of plans – the fact that they preserve both, the view from the outsite and the possibility of entering into them.

The child discovers his passions for maps, withdraws into his room and sits there for many hours looking at an old atlas. He is amazed about the reality that is drawn there which has so little similarity to the one he is used to – it is intendet to be valid for everyone while yet leaving so much room for the imagination in the heads of all those who lack the experience. He draws maps of places he has never been to, that do not even exist, of an unknown city by the sea. Once somewhere on a fresco he sees a depiction of the world in which the number of continents is different and they are shaped differently from those he knows from his school atlas. Excitedly he deciphers the writing on the white surface along the edges: TERRA INCOGNITA, the unknown continent, and HIC SUNT LEONES, fierce lions live here.

Strange places and familiar ones: the subject has always been defined through his radius of movement, his surroundings, the place that he inhabits or has lost as a figuitive, emigrant, asylum-seeker. At the transition from the 18th to the 19th centuries Novalis noted „about the sphere of woman – the nursery – the kitchen – the garden – the cellar – the pantry – the bedroom – the living room – the guest room – the attic or the storeroom“. In addition to the assignment from the outside there is the wish to make ourselves at home in the familiar as well as the unfamiliar, to safeguard our identity, to reassure ourselves. The place inscribed into the body: movement, function, habit, circumscribe it („we always went through here“: without hesitating, the number of steps it takes to reach the door; automatized, the turning of the body, when after so and so many steps we have to turn left or right on our way home). Movement sequences which together with sounds and smells also mark the guiding traces of the mémoire involontaire, not only like the places of the ancient theater of memory of the ars memorativa that are artificially imprinted upon the mind („la memoria artificiale consiste ex locis et imaginibus“) and can be filled with images that we choose ourselves and intentionally visited to recapitulate the text of the speech. A trace that can be followed in search of remembrance of things past, combined into a story or having dumped the archeological layers of recollection onto a plane surface, an engramme of an inner map of places that we have been to or long to visit and explore, a site plan on a drawing board of that which we have experienced, with all the pathos and embellishments removed by the passage of time.

 

Published in: Karl-Heinz Klopf: Planen, Secession, Vienna, 1993
Translation from German by M.E. Clay